16. Dez, 2016

Eine launige Weihnachtsgeschichte

von Gerhard Egger, geschrieben für die OÖ. Nachrichten

An einem lauen Sommerabend des Jahres 1958 saß ich mit meinem Vater auf einem Hochstand unterhalb des Gosauer Hornspitzes, um in der anbrechenden Dämmerung Rehe zu beobachten. „Dort drüben steht unser nächster Weihnachtsbaum“, flüsterte er mir zu und zeigte auf eine gutgewachsene Tanne im angrenzenden Jungwald. „Schau ihn dir gut an. Ein gerader Stamm und regelmäßige Astreihen sind für einen edlen Christbaum unabdingbar. Ich beobachte sein Wachstum schon seit Jahren. Heuer werden wir ihn uns holen.“

Als der Heilige Abend vor der Tür stand, stapften meine zwei Brüder und ich durch den verschneiten Bergwald, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Unsere Vorfahren hatten die Gosauer Wälder über mehrere Jahrhunderte betreut, weshalb wir von der Rechtmäßigkeit unseres Tuns überzeugt waren. Es gehörte einfach zu den wohlerworbenen Rechten eines Gosauer Bergbauern, sich alljährlich eine Tanne aus dem heimatlichen Forst zu besorgen. Wozu also im Forstamt eine Ge-nehmigung beantragen?

„Stellt ihn in die Stube und öffnet das Fenster, damit das Christkind hereinfliegen und ihn schmücken kann!“, trug uns die Mutter auf, als wir mit dem Objekt unserer Weihnachtsbegierde anrückten. Kaum hatten wir ihren Auftrag ausgeführt, versperrte sie die beiden Stubentüren. Neugierig drückte ich von Zeit zu Zeit ein Auge an eines der Schlüssellöcher, um einen Blick auf das einschwebende Himmelskind zu erhaschen.

Die Stunden bis zum Abend dehnten sich endlos. Den traditionellen Weihnachtsaufschnitt ver-schlangen wir mehrmals mit den Augen, noch bevor wir ihn endlich genießen durften. Fleisch oder Wurst standen in diesen Zeiten ja nur an Feiertagen auf dem kargen Speisezettel.

Gegen Abend fanden sich unsere Großeltern mit Tante Lisi und Onkel Pepi bei uns ein. Mir fiel auf, dass während der kurzzeitigen Abwesenheit meiner Mutter Geräusche aus der versperrten Stube drangen. Diese Entdeckung brachte  meinen Glauben an das Christkind erstmals ein wenig ins Wanken. Um mir die besinnliche Stimmung zu erhalten, machte ich gute Miene zum guten Spiel.

Endlich bimmelte das Christkind mit seinem Glöckchen. Ich entsperrte hastig die Tür und stürmte in die Stube, um es vielleicht doch noch davonfliegen zu sehen. Aber selbst ein aus dem Fenster geworfener Blick konnte es nicht mehr einfangen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich jedoch, wie jemand die zweite Stubentür zuzog.

„Vielleicht ist es ja auch dort hinausgehuscht“, stellte ich zweifelnd fest ich und begann leicht angespannt mein Weihnachtsgedicht vorzutragen. Dabei konnte ich meine Augen kaum von den gebrauchten Holzlatten meines Bruders abwenden, die unter den Geschenken hervorlugten. Sie eröffneten mir die Chance auf einen neuerlichen Sieg im Abfahrtslauf des Schulschirennes, den ich schon in den letzten beiden Jahren hatte erringen können.

Während ich noch darüber frohlockte, stimmte meine Mutter ein erstes Weihnachtslied an. Der harmonische Klang des familiären Zuahi- und Driwasingens holte in mir jene Besinnlichkeit zurück, die ich in meiner Freude über die gebrauchten Sportgeräte verloren hatte. Als wir Brüder schließlich die Geschenke verteilten und ich mit Jack Londons Wolfsblut auch noch meinen größten Lesewunsch erfüllt sah, war ich rundum glücklich.

Ich stürzte mich sofort auf das Buch, aber Tante Lisi bestand darauf, meine musikalischen Forstschritte überprüfen. Meine autodidaktischen Versuche auf der Gitarre, dem Akkordeon oder dem uralten Flügel, den unser Vater auf einem Pferdemarkt erworben hatte, hatten es ihr angetan. Senta, unsere bayrische Jagdhündin mit einer Vorliebe für wutentbranntes Gebelle, ließ sich nicht lange bitten und heulte herzerweichend mit. Wir versuchten sie gerade mit einem kostbaren Wurstrestchen zu besänftigten, als ein Klopfen am Fenster unsere weihnachtliche Idylle störte.

Wenn in diesem Augenblick eine Tannennadel gefallen wäre, so hätten wir ihr Fallen wohl vernommen. Wer mochte so spät am Heiligen Abend noch etwas von uns wollen? Mein Vater erhob sich, zog den Vorhang zurück, und wir trauten unseren Augen nicht. Draußen stand Waldmann, der Rüde des Oberförsters, im fensterbretthohen Neuschnee und presste seine Schnauze sehnsüchtig gegen die vereisten Scheiben. Er wollte wohl unserer Senta einen Weihnachtsbesuch abstatten. Wir baten den Herbergesuchenden herein und wiesen ihm ein Nachtlager im Vorhaus zu, worüber sich Senta allerdings lautstark empörte.

„Jetzt aber ab ins Bett!“, beschied der Vater uns zwei jüngeren Brüdern, als sich der Heilige Abend schließlich seinem Ende zuneigte. Zufrieden suchte ich selbiges auf, nicht ohne Schi und Buch dorthin mitzunehmen. Vor dem Einschlafen malte ich mir noch aus, wie ich am nächsten Tag den Nachbarkindern auf dem Hang vor unserem alten Bergbauernhaus die gebrauchten Latten meines Bruders als meine neuen Rennschi präsentieren wollte.

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