18. Jul, 2018

Hausmusik goes Mostrock

Eine Rückbesinnung von Mostrocker Gerhard Egger

Ich war gerade einmal fünf Jahre alt, als meine Mutter beim Geschirrabwaschen den Dudlhofer anstimmte. Und weil sie damals bereits wusste, dass ich die erste Stimme auch ohne ihre Unterstützung würde halten können, wechselte sie spontan in eine zweite über. Der damit verbundene Wohlklang jagte mir kalte Schauer über den Rücken.

Mit diesem Schlüsselerlebnis möchte ich aufzeigen, wie sehr die salzkammergütlerische Hausmusik in den 1950er-Jahren noch in der Tradition des Musizierens nach dem Gehör verwurzelt war. Geschulte Musiklehrer waren kaum greif- oder leistbar, und die autodidaktische Herangehensweise für viele die einzige Möglichkeit, sich mit einem Instrument vertraut zu machen.

Auch meine Familie war fest in dieser Tradition verhaftet. Um ihrer musikalischen Leidenschaft nachgehen zu können, sparte sie sich den Erwerb einzelner Musikinstrumente regelrecht vom Mund ab, und das, obwohl niemand wirklich Noten lesen konnte.

Demzufolge standen bzw. lagen in meiner Kindheit in der Wohnstube unseres Gosauer Bergbauernhauses ein Klavierflügel, ein Akkordeon, eine Gitarre, eine Geige und diverse Seitelpfeifen herum. Optisch von diesen Instrumenten angeregt, begann ich schon in frühen Jahren darauf herumzuklimpern. Zu meiner eigenen Überraschung sagte mir mein Ohr, wohin meine Finger würden greifen müssen, wenn ich eine bestimmte Melodie tongerecht erklingen lassen wollte.

Meine große Liebe aber galt dem Gesang. Vor allem die archaisch dahinschwebenden, mehrstimmig vorgetragenen Jodler unserer Region versetzten mich immer wieder in einen emotionalen Ausnahmezustand, der seinesgleichen suchte. Dieses vom Volksmund als Zuahi- und Driwasingen bezeichnete In- und Übereinandergleiten von gedehnten Vokalen war für mich das musikalische Nonplusultra meiner Kindheit.

Mit ihrer Musikbegeisterung war meine Familie aber beileibe nicht die einzige. Gemessen am damaligen Schulbildungsgrad der meisten Talbewohner war die Anzahl ihrer musikalischen Aktivitäten überdurchschnittlich hoch. Allein in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ließen zuweilen ein Zither- und mehrere Knopfharmonikaspieler ihren anstrengenden Arbeitstag auf der Hausbank musizierend ausklingen. Ob Zuhörer anwesend waren oder nicht, spielte dabei eher eine untergeordnete Rolle.

Auch die Musikgruppen meiner Mutter waren stets mehr an der Freude am eigenen Tun interessiert denn an der Reaktion eines Publikums. Sie genossen die gemeinschaftsfördernde Atmosphäre ihrer Gesangsabende meist in Freundeskreisen und traten nur selten konzertant auf.

Ich selbst betätigte mich daneben auch im schulischen Bereich in den verschiedensten volksmusikalischen Gruppen, bis sich Mitte der 1960er-Jahre mit einem Schlag alles änderte.

Die Musik der Beatles war in mein Leben getreten.

Als ich die vier Liverpooler das erste Mal im Radio hörte, jagte mir ihre Mehrstimmigkeit dieselben wohligen Schauer über den Rücken, wie ich sie bei den archaischen Jodlern unserer traditionellen Viergesänge verspürt hatte. Voller Begeisterung machte ich meine Eltern auf diese harmonische Klangverwandtschaft aufmerksam. Aber sie reagierten auf dieses ihrer Meinung nach fremdländische Geschrei nur mit Empörung.

In meiner Not suchte ich nach Gleichgesinnten und fand sie in einem musisch pädagogischen Realgymnasium des Südburgendlands. Begeistert über deren Seelenverwandtschaft gründete ich im Alter von fünfzehn Jahren meine erste Band und begann nach dem Vorbild der Beatles englischsprachige Songs zu schreiben. Damit war mein volksmusikalisches Interesse vorerst einmal erloschen.   

Die Auftritte dieser Schulband erregten einiges Aufsehen und riefen den erzürnten Widerstand der Professoren auf den Plan. Sie brandmarkten unsere E-Gitarren als Teufelsgeigen und versuchten unsere Begeisterung mit empfindlichen Strafen zu dämpfen. Wurde man etwa in einer klassischen Klavierübungsstunde beim Intonieren eines Beatlessongs ertappt, setzte es wegen ungehöriger Beeinträchtigung des wertvollen Instruments zwanzig Schilling Geldstrafe oder einen Nachmittag Hausarrest in der Schulbibliothek.

Nachdem das beatleske Lebensgefühl in den 1970er-Jahren seinen Höhepunkt überschritten hatte, versuchte ich meine bescheidenen klassischen Klavier- und Orgelkenntnisse mit meinem autodidaktisch erworbenen Rockgitarrenspiel in Einklang zu bringen. Unter dieser Prämisse schrieb ich im Verlauf meiner Linzer Studienzeit als Mitglied der Gruppe Art Boys Collection mehrere Ö3-Hits, die heute, in Österreich allerdings kaum beachtet, auf diversen Internetplattformen von New York bis Tokio als rockmusikalische Pionierleistungen gewürdigt werden.

Unter welch schwierigen Voraussetzungen wir uns damals in den Bereichen Pop, Rock und Blues weiterbilden mussten, ist für heutige Musiker nur schwer nachvollziehbar. Es gab dafür in Österreich weder Lehrer noch Notenunterlagen und schon gar keine finanzielle oder organisatorische Unterstützung. Wie einst in der Hausmusik waren wir ausschließlich auf Eigeninitiative und unser musikalisches Ohr angewiesen.

So etwa saßen wir mit der aus den Erträgen von Ferialarbeit finanzierten Gitarre in der Hand vor den Radiogeräten, um die Gesangslinien, Textzeilen und Riffs der neuesten Songs herunterzuhorchen. Da dies in den drei Minuten Sendezeit, in denen der Song über den Äther rauschte, kaum zu schaffen war, mussten wir oftmals bis zu einer Woche auf die nächste Gelegenheit warten. Dementsprechend gesucht war der persönliche Austausch von Akkordfolgen und Gitarrenriffs. Ansonsten stand das autodidaktische Learning By Doing meist im Vordergrund.

Mitte der 1970er-Jahre, ich hatte mir meine revolutionären Hörner inzwischen einigermaßen abgestoßen, war mein Traum von einer lebenslangen Musikerkarriere in weite Ferne gerückt. Ernüchtert gründete ich eine Familie und ergriff den Brotberuf eines Volksschullehrers.

Doch meine Leidenschaft sollte mich auch danach nicht loslassen. Unermüdlich auf der Suche nach authentischen Wegen ließ ich versuchsweise Elemente aus der Volksmusik meiner Kindheit in meine selbstgeschriebenen Rocksongs einfließen.

Mein ehemaliger Goiserer Schulkollege Wilfried Scheutz, mit dem ich einst im Schulorchester zusammengespielt hatte, schien etwa zur gleichen Zeit Ähnliches verspürt zu haben. Im Gegensatz zu seinem war mein erster Versuch allerdings nur mäßig erfolgreich. In der Folge zog ich, meine Enttäuschung hegend, fünf Jahre lang mit einer Coverband durch die Lande.

Danach, zu Beginn der 1980er-Jahre, gründete ich eine eigene Produktionsfirma und begann mich als Musikproduzent und Songschreiber für andere Interpreten zu betätigen. In dieser Zeit arbeitete ich mit Künstlern aus allen erdenklichen Stilbereichen zusammen. Nach einigen Produktionen mit Chören wurde mir klar, dass sich inzwischen klassisch ausgebildete Musikpädagogen der Volksmusik meiner Kindheit bemächtigt und ihr die emotionale Kraft weggeschliffen hatten. Von der berührenden Tiefe der Hausmusik der Salzbergarbeiter und Holzknechte, die im Schweiße ihres Angesichts um ihr tägliches Brot hatten schuften müssen, war in vielen Fällen nur mehr eine perfekt vorgetragene Hülle übriggeblieben.

Von dieser Entwicklung nicht unbedingt angetan, begann ich einmal mehr nach meinen Ursprüngen zu suchen und fand sie in der Musik salzkammergütlerischen Wirtshausmusiker. Sie ließen mich noch jenes emotionale Schaudern erahnen, das ich in meiner Kindheit so sehr genossen hatte. Ihre derbe Ausdruckskraft erinnerten mich aber auch an die Pioniere der angloamerikanischen Rockmusik, die ihre Kreativität aus dem Blues der schwarzen Arbeitssklaven bezogen hatten.

Diese schon einmal empfundene Erkenntnis drängte mich erneut dazu, die beiden Musikstile meines Lebens zu vereinen. Und so beschloss ich Mitte der 1980er-Jahre, mit meiner Band Gerhard Egger & Die Mostrocker einen neuerlichen Crossover-Versuch zu wagen.  

Wie man heute weiß, ist mir auch dieser nur rudimentär gelungen. Hubert von Goisern, der eine ähnliche Entwicklung durchlaufen hat, konnte diese Idee ein paar Jahre später wesentlich beeindruckender umsetzen. Ihm ist zuzuschreiben, dass die Tugenden der salzkammergütlerischen Volksmusik den Sprung aus ihrer musealen Starre ins nächste Jahrtausend geschafft haben.

Und was ist der gegenwärtige Stand der Dinge?

Meines Erachtens haben die zahlreichen und vielschichtig angebotenen Ausbildungsmöglichkeiten in unserem Land eine noch nie dagewesene Vielfalt an virtuosen Musikern hervorgebracht. Ihnen ist zu wünschen, dass sie in ihrer Weiterentwicklung auf ähnliche Wurzeln zurückgreifen können, wie wir sie im häuslichen Musizieren des Salzkammerguts vorgefunden hatten.

 © gerhard egger, 2018 

Diese Seite teilen